In Hessen gibt es große Probleme mit der Genverarmung beim Rotwild. (Plakat LJV Hessen)
In Hessen gibt es große Probleme mit der Genverarmung beim Rotwild. (Plakat LJV Hessen)

Tag des Rotwildes

Bad Orb, 15. Juli 2023

Bericht und Kommentar von Dr. Wolfgang Kornder

 

 

Aus der Ankündigung der Landesjagdverbände Hessen und Bayern:

 

„Mit großer Sorge blicken wir seit Jahren auf unser Rotwild und dessen Entwicklung in Bayern, in Hessen, aber auch in ganz Deutschland. So lassen insbesondere Beobachtungen von Missbildungen die Alarmglocken immer deutlicher schrillen. Inzwischen gibt es hierzu auch erste genetische Untersuchungen die bestätigen, dass es sich hierbei um ein ernsthaftes Problem, bedingt durch genetische Verarmung, handelt. Was läuft hier falsch? Wo müssen wir dringend ansetzten, um nachhaltig gesunde Rotwildbestände in Deutschland zu erhalten?

Nun starten wir zusammen mit dem Hessischen Landesjagdverband durch, und wollen Sie hierzu ganz herzlich einladen. Der "Tag des Rotwildes" findet am 15. Juli 2023 in der Konzerthalle Bad Orb (Horststraße 3, 63619 Bad Orb) statt.“

 

Wie bereits bei der Süddeutschen Rotwildtagung des Bayerischen Jagdverbandes (BJV) und Landesjagdverbandes Baden-Württemberg in Isny am 25. März 2023 war ich wieder dabei. Das Thema hat ja durchaus eine gewisse Brisanz, Lösungen wären gefragt.

 

Hochkarätige Referenten waren geladen. Auch die jeweiligen Staatsforste, nach allgemeiner Sicht eher Antipoden herkömmlicher Rotwildbetrachtung, waren vertreten. Respekt, dass man diese geladen hatte und damit kontroverse Sichtweisen in die Diskussion einbrachte.

 

Moderiert wurde wieder von Cristian Teppe. Die Begrüßungsansprachen der beiden Präsidenten gehörten natürlich dazu.

 

Prof. Dr. Jürgen Ellenberger verwies darauf, dass Rotwild keine Grenzen kenne und von daher auch länderübergreifend gearbeitet werden müsse. Gerade weil in Bayern und Hessen Wahlen anstehen, sei diese Tagung wichtig, um die Interessen des Rotwildes zu vertreten. In Hessen würden seit der Schalenwildrichtlinie von 2018 „wahllos“ und „zu viele Hirsche“ geschossen, wahllos „Geweihte“ erlegt.

Hessen habe noch „Rotwildgebiete“ und gleichzeitig eine signifikante Genverarmung beim Rotwild. Mit einem Video verdeutlichte er anschaulich, dass erst vor wenigen Tagen im hessischen Kellerwald-Edersee ein schwer gengeschädigtes Rotwildkalb erlöst worden sei. Die Rotwildgebiete müssten aufgelöst, Korridore und Querungshilfen erstellt werden und die Bejagung müsse sich sinnvoll anpassen.

 

Ernst Weidenbusch, Präsident des BJVs, betonte, dass es darum gehe, Wissen zu vermitteln, eine sinnvolle Raumplanung vorzunehmen, die Wegesysteme zu eruieren und die Wildwegeplanung zu forcieren.

 

Prof. Dr. Dr. Sven Herzog (TU Dresden)
„Artgerechter Umgang mit dem Rotwild: Fakes und Fakten”

 

Prof. Herzog war trotz einer Verletzung zur Tagung gereist. Er hatte sozusagen das einleitende Hauptreferat zu schultern. Wer ihn kennt, wusste, dass Interessantes und Kurzweiliges zu erwarten war, - pointiert, manches überzogen und anderes wieder relativierend.

 

Es gehe darum, „was man verbessern kann“. Damit begann er, um dann darzustellen, dass die hessischen Rotwildgebiete allesamt im Sommerstreifgebiet liegen – und die Wintereinstände fehlen, eine Situation, die deutschlandweit Parallelen hat. Damit seien die Probleme schon vorgezeichnet.

 

Die Thematik Rotwild und Biodiversität trete immer mehr in den Vordergrund, z.B. beim Offenhalten von Landschaften. Ob die Beweidung mit Schafen diese Aufgabe mit zunehmenden Wolfsdichten noch leisten könne, sei fraglich. Hier könne das Rotwild zumindest teilweise, bei richtiger Lenkung, Aufgaben übernehmen. Der Bundeswehrübungsplatz Grafenwöhr belege dies.

 

Der Wolf braucht Beute, seine Ausbreitung in Deutschland folgte vor allem den Rotwildbeständen.

 

Die europäische Gesetzesinitiative zur Wiederherstellung der Natur mit 20% stillgelegtem Waldanteil fördere die Ausbreitung und schaffe Lebensraum für das Rotwild. „Naturwälder“ seinen im Gegensatz zur herkömmlichen Anschauung sehr wildreich. „Sie verdauen eine sehr hohe Zahl von Huftieren.“ Das komme dem Rotwild zugute (Prof. Herzog spricht am Ende seines Vortrages von 15 Stück auf 100 ha!). Im Gegensatz dazu seien hohe Huftierbestände im Wirtschaftswald nicht möglich. Er untermauerte dies mit einem Bezug auf Alfred Brehm und Horst Stern, verwies aber bei Letzterem auch auf dessen Kritik an den forstlichen Monokulturen. Trotzdem zeigte er Verständnis für diese historisch bedingte Entwicklung der Monokulturen: „Es ist gut, dass man im 19. Jhd. diese Fichtenwälder gepflanzt hat.“

 

Tiere seien Bestandteil des Waldes und es gebe im Grundsatz keinen „Wald-Wild-Konflikt“. Aber wenn gleichzeitig Forst- und Jagdwirtschaft gepflegt werden sollen, funktioniere das nicht. Er problematisierte die Definition von „Schäden“ im Wirtschaftswald, da sich diese erst später belegen ließen. Die zentrale Frage sei, „was bleibt übrig?“ Alles, was bis zur Ernte ohnehin wegfällt, sein kein „Schaden“, so sei das Schälen von Fichten, die ohnehin später dem Borkenkäfer zu Opfer fielen, oder Verbis an Jungpflanzen, von denen nur ein Bruchteil als Endbestand übrigbliebe, kein „Schaden“. Dazwischen werde durch die Pflege einiges herausgeschlagen, was ja auch nicht als „Schaden“ deklariert werde.

 

Herzog ist die Problematik der Klimakrise im Wald durchaus bewusst: „Wir müssen uns auf alles einstellen.“ Allerdings spricht er eher von hausgemachten Problemen in Kombination mit dem Klimawandel. Dem Wald helfe nur das, was überlebt. Und man müsse dabei „mit den Wildbeständen klarkommen“. Interessanterweise rede der Forst besonders über das Wild, während NGOs über den Wald reden. Und statt Wiederbewaldung mit Pflanzung („Wir knallen uns wieder die Fläche voll!“) sollte man eher auf Sukzession setzen. Das Gebot der Stunde sei eher „nichts tun, gar nichts machen“. Zusammengebrochene Flächen könne man z.B. zu 5% zu Wildwiesen umgestalten und 10% der Schadflächen einfach liegen lassen. Das würde die Lebensräume für das Wild verbessern.

 

Überwinterungshilfen und passende Lebensräume für das Rotwild seien sehr wichtig. Lebensraumgutachten sollten erstellt werden und eine Bewertung enthalten. Nährstofftabellen könnten verdeutlichen, wieviel Substanz der Lebensraumkapazität im Winter vorhanden ist.

Nach Herzog seinen 80% der Schäle durch falsche Bejagung bedingt. Fütterung könne auch dazu gute Ergebnisse bringen, ebenso wie Wildruhezonen. Und man müsse sich immer bewusst machen, dass Jagd Störung sei. Deshalb dürfe Wildreduktion (also Bejagung) kein Dauerzustand werden.

 

Die Jagdzeiten und so manche Jagdvorgaben wie Abschusspläne seien „ganz fragwürdig“. Jagd immer früher sei abzulehnen, da in dieser Zeit (April/Mai) die nahrungsintensivste Zeit zur Ernährung der Kälber und dann zum Aufbau von Winterreserven sei (auf der Folie April – Oktober). Die derzeitige intensive Bejagung von Sauen aufgrund der Afrikanischen Schweinepest (ASP), die in 5 Jahren absolut vorbei sein werde, sei ebenfalls hoch fragwürdig, ja die intensive Schwarzwildbejagung einschließlich Nachtjagd sei „Unfug. Ich muss auch keine Schweine schießen.“ „Einfach mal nein sagen, ohne mich,“ - das sei (sinnvoller) ziviler Ungehorsam.

 

Dann folgten die Lösungen durch Jagdmethoden und -strategien.

-       Der Fortwirtschaft helfe „weniger Jagd“, die zudem kleinräumiger erfolgen solle.

-       Der richtige Umgang mit den Wildtieren ermögliche forstliche Erfolge.

-       In Setting fortwirtschaftlicher Nutzung könne man mit Jagd kein Geld verdienen.

-       Die Alttierbejagung werde überschätzt, man könne die Zuwachsträger auch durch den Abschuss von Kälbern und Schmaltieren ausreichend begrenzen (hier widersprach Olaf Simon in seinem Referat später eindeutig).

-       „Zahl vor Wahl“ sei beim Rehwild vielleicht sinnvoll, beim Rotwild absolut destruktiv.

-       Die Förster sollten sich erinnern, dass es ihr Ziel sei Wälder aufzubringen, nicht die Jagd.

 

Streifgebiete der Alttiere werden überschätzt, sie liegen nach seriösen Forschungen aus Grafenwöhr zw. 88 und 445 ha. Man müsse dort jagen, wo die Verjüngungsflächen liegen und nicht ziel- und planlos auf der ganzen Fläche.

 

Es gehe darum, Ökologie, Ökonomie und sozio-kulturelle Anforderungen (z.B. Erlebbarkeit des Wildes) zu ermöglichen. Die Haltung „Wir müssen immer mehr jagen“ sein ein Albtraum.   

 

Sein Schlussfazit (als Folie, in Klammern erklärende Zusätze vom Verfasser dieses Berichtes):

-       Jagdliche und forstliche Glaubenssätze aufgeben (Probleme erkennen und ändern)

-       Raus aus der Opferrolle!

-       Ethik: Respekt

-       Partizipation (Bewegung von unten nach oben)

 

Kommentar:

-       Dass in kaum einem deutschen Rotwildgebiet vor allem die ursprünglichen Wintereinstände verfügbar sind, ist ein bekanntes Faktum. Damit ist eine Situation benannt, die in einem dicht besiedelten Land wie bei uns auch nicht mehr änderbar ist! Dem Rotwild hier eine Opferrolle zuzuweisen, erzeugt zwar eine Mitfühlstimmung für das Rotwild, mit deren Rückenwind man sich für das Rotwild einsetzen kann, löst aber an der grundsätzlichen Ausgangssituation nichts.

Interessant wäre die Frage, ob nicht der Winterzustand des Lebensraumes als Kapazitätsgrenze der Population anzustreben wäre?

 

-       M.E vermischt Prof. Herzog  Wirtschaftswald und „Naturwald“ (was immer er genau darunter versteht) oftmals unzulässig. Meint er die alten europäischen und angrenzenden asiatischen Urwälder, dann stimmt seine Behauptung hoher Wildbestände nicht.

In „Naturwäldern“ im Sinne stillgelegter Wälder ist der Huftiereinfluss weitgehend (bis auf die radikale Entmischung) unproblematisch, in Wirtschaftswäldern kann er fatal sein.

 

-       Dass Prof. Herzog – wie übrigens viele andere – den Schadensbegriff unscharf einsetzt, verschleiert mehr als es nützt.

In einem Ökosystem, das keinerlei wirtschaftlicher Nutzung unterliegt, gibt es natürlich keine ökonomischen Schäden. Es gibt dort schwer definierbare ökologische Schäden, wenn z.B. durch überhöhte Schalenwildbestände ganze standortgemäßen Baumarten ausfallen. (Dieses Phänomen haben wir z.B. in fast allen deutschen Nationalparks, in denen Wald und Huftiere vorkommen.)

Ganz anders sieht es aber im Wirtschaftswald aus. Dort lassen sich eindeutig Schäden definieren. Herzog übersieht die Verringerung des Betriebsrisikos und der Eingriffsmöglichkeit durch die üppige Naturverjüngung und verwechselt gezielte Eingriffe zur Entwicklung der Bestände mit unkalkulierbaren Folgen, gerade in der Klimakrise, die niemand voraussagen kann und gegen die die Vielfalt an Baumarten eine gewisse Absicherung darstellt. Wirtschaftswälder, auch naturnah bewirtschaftete Wirtschaftswälder, verdauen grundsätzlich keine zu hohen Huftierbestände. Wenn wir unsere Wirtschaftswälder, derzeit ca.90% unserer Wälder, grundsätzlich brauchen sollten – das muss die Gesellschaft entscheiden -, müssen wir deren Pflege und Entwicklung bis hin zur nötigen, ggf. auch problematischen Schalenwildreduktion auch zulassen. Wenn wir unsere Wirtschaftswälder nicht brauchen sollten, muss man klären, wo wir den Rohstoff Holz herbekommen.

 

-       Forst hat in unserem Land überall den Auftrag (soweit noch möglich) stabile Wälder zu entwickeln. Dabei spielt das Thema Jagd naturgemäß eine, wenn nicht gar die zentrale Rolle. Denn ohne angepasste Schalenwildbestände wird ein nach heutiger Anschauung klimastabiler, gemischter Wald keine Chance haben. Folglich muss das Thema Jagd im Waldbau (Forst) eine zentrale Rolle spielen. Das Eine gibt es nicht ohne das Andere.

 

-       Rotwild als Weideersatz für Schafe! – Geht vielleicht in Grafenwöhr oder in stillgelegten Wäldern, wo es völlig egal ist, was abgeweidet und was aus dem Wald wird. In Wirtschaftswäldern und in deren Umfeld auf bewirtschafteten Wiesen und Feldern erzeugt das Beweiden mit Rotwild bereits jetzt immense Schäden, ganz einfach, weil Rotwild auch das frisst, was es nicht fressen sollte. Und wenn man so weit ist, dass das Rotwild von einem Schäfer gehütet wird, wären wir bei der Endstufe der Domestizierung angekommen.

 

-       Einzelne, wahrscheinlich überspitzt formulierte Thesen wie der vollständige Verzicht auf die tierschutzmäßig problematische Bejagung der Alttiere oder der Verzicht auf die Schwarzwildbejagung sind nicht nur aus meiner Sicht völlig realitätsfremd. Das kann man in stillgelegten Naturschutzgebieten, am besten im Verbund mit den entsprechenden Großprädatoren probieren, aber nicht in einer dicht besiedelten Wirtschaftslandschaft.

 

-       Ich habe – wie bei vielen Vertretern der wildfreundlichen Seite - immer wieder das Gefühl, dass die vorgeschlagenen Grundsätze und „Lösungen“ (die Huftierdichte habe keinen Einfluss auf Verbiss, Fütterung, Ruhezonen, eingeschränkte Jagdzeiten, „richtige“ Bejagung lösen die Probleme, …) wunderbar eingängige und in der Gesellschaft leicht vermittelbare Konzepte sind, die aber letztlich an der Realität scheitern (müssen).

 

 

Die weiteren Referate der Veranstaltung

 

Hier werde ich mich kürzer fassen. Ein Teil dieser Vorträge war m.E. sehr realitätsnah und eindrucksvoll, ein anderer Teil schien mir wenig zielführend.

 

 

Prof. Dr. Dr. Gerald Reiner & Julian Laumeier (Justus-Liebig-Universität Gießen)
„Genetische Verarmung des Rotwildes – Folgen und praxisnahe Lösungsansätze“

 

Prof. Reiner und Doktorand Laumeier teilten sich das Referat auf. Prof Reiner erklärte stimmig und nachvollziehbar Grundsätze der Genetik. Er unterstrich die in Hessen diagnostizierte Genverarmung in einem guten Teil (65%) der dortigen Rotwildgebiete (untersucht insg. 40), erläuterte die negativen Folgen von Gendefiziten (z.B. verkürzte Unterkiefer, Buckelbildung, höhere Sterblichkeit der Kälber …) und zeigte bekannte Bewegungskorridore zwischen einzelnen Rotwildbereichen in Hessen. Sein Abschlussfazit: Es ist „Zeit zum Handeln!“ Die Wiedervernetzung sollte gefördert werden.

 

Laumeier besprach mögliche Lösungsansätze. Dabei unterschied er Maßnahmen innerhalb („Intra“) und zwischen („Inter“) Rotwildgebieten.

 

Intra

Inter

-       Bestand

-       Bejagung

-       Lebensraum

-       Akzeptanz

-       Vernetzung

-       Bejagung

-       Akzeptanz

 

 

Das Problem liege darin, dass der Gen-Austausch fehle, Wanderhirsche in den rotwildfreien Gebieten zum Abschuss freigegeben sind und in der Angst, dass Rotwild sich ggf. außerhalb der Rotwildgebiete ansiedle.

 

Weibliches Rotwild sei standorttreuer, Hirsche würden mehr wandern. „Wir brauchen die Wanderhirsche“, dazu ein vernünftiges Management und eine intensive Bejagung des weiblichen Rotwildes, so dass trotz Wanderung eine wald-verträgliche Rotwilddichte entsteht. Dabei sei ein vernünftiges Management in den Rotwildgebieten die Voraussetzung für die (notwendigen) Wanderungen. Unabhängig von den Wanderungen würden mehr Brunftrudel innerhalb der Rotwildgebiete bei höherer Anzahl von Hirschen zur besseren Genmischung beitragen. Anzustreben sei ein Verhältnis 1:1. 

 

Die Rotwildbestände müssen an das „Habitat vor Ort“ angepasst werden. Die Alttierabschüsse bedürften eine „professionellen Managements“. Die „Bereitstellung von Wanderhirschen“, d.h. die stärkere Schonung von Hirschen und die damit verbundene Anhebung der Hirschbestände, seien „Wegbereiter für die Wanderung“. Bei höherer Anzahl junger Hirsche würden auch mehr wandern.

 

Es sei meist genug Nahrung vorhanden, aber zu viel Stress, wobei die Jagd der größte Stressor sei. Über Ruhezonen, in denen natürlich nicht gejagt wird, könne man die Nahrung verfügbarer machen. Die Bejagung sollte gezielt und nicht nach dem Gießkannenprinzip erfolgen. Schäden könnten über Wildlenkung verringert werden. Grundsätzlich müsse die Akzeptanz auf allen Seiten erhöht werden. So könne die Jagd über ihre (glaubhafte) Bejagung Akzeptanz schaffen. Eine wichtige Frage sei, wo die Lebensraumkapazität liege.

 

Kommentar:

Laumeier brachte einige Lösungsansätze ins Gespräch, die jagdlich eigentlich ohne Probleme umsetzbar sind. Vor allem der Verzicht auf die intensive Hirschbejagung mit dem Endziel ein Geschlechterverhältnis von 1:1 zu bekommen, wäre sofort möglich, wenn sich die Jäger einig wären. Vermutlich wird dieser Verzicht aber kaum durchsetzbar sein, vor allem dann nicht, wenn die von Laumeier geforderte intensive Reduktion des weiblichen Rotwildes damit verbunden wäre.

Dass darüber hinaus über andere Schritte, allen voran Grünbrücken, nachgedacht werden muss, bleibt davon ja unbenommen.

 

 

Olaf Simon (Institut für Tierökologie und Naturbildung)
„Kälberwaisen – Risiken bei Freigabe von Alttieren auf Bewegungsjagden“

 

Rotwild sei k-Stratege mit einer hohen Investition in den Nachwuchs. Kälber lernen von ihren Müttern Grundlegendes: „Für die Entwicklung junger Kälber ist die Fürsorge der Mutter entscheidend.“ Der Muttertierschutz habe deshalb eine sehr hohe Priorität. Kälber ohne Führung legen gewichtsmäßig weniger zu, haben eine höhere Mortalität, lernen viel weniger nötige Verhaltensweisen, angefangen vom Sichern bis hin zur Raumnutzung.

 

Verwaiste Kälber hätten ein verzögertes und geringeres Körperwachstum, eine geringere Überlebenschance, Hirschkälber sterben eher als Wildkälber,

Anders als Prof. Herzog ist Simon der Meinung, dass man vom Gesamtbestand etwa 20% Alttiere erlegen müsse. Auf Bewegungsjagden sei das allerdings vor allem dann problematisch, wenn schnelle und stumm jagende Hunde (oder stumm jagende Treiber) eingesetzt werden. Untersuchungen zu erlegten, säugenden Alttieren auf Bewegungsjagden zeigen eindeutig, dass der Anteil verwaister Kälber relativ hoch ist; in einer größeren Untersuchungsreihe gab es Kälberwaisen von 28% der erlegten Alttiere.

Eine günstige Zeit zur Alttierbejagung liege im August, da die Familienverbände noch klein und stabil seien. Im Oktober/November könnten Doubletten freigegeben werden. Bei Bewegungsjagden mit wenig Druck durch Hunde und Treiber könne man bis November/Dezember u.U. auch Alttiere erlegen. Ab Ende Dezember habe die Jagd zu ruhen. Der Tierschutz sei immer streng einzuhalten.

 

Prof. em. Dr. Friedrich Reimoser (vorm. Universität Wien)
„Vorstellung der Wildökologischen Raumplanung in Österreich”

 

Aus Österreich zugeschaltet warb Prof. Reimoser für die Wildökologische Raumplanung (WÖRP).

 

Die WÖRP unterscheidet eine großräumige Basisplanung (landesweit, länderübergreifend) und eine regionale Detailplanung (Maßnahmen je Wildregionen). Sie sei für jede Wildart möglich. Ziele seien die Lebensraumerhaltung und die Wildschadensverminderung. Es gehe darum „Wildtiere möglichst schadensfrei in die Kulturlandschaft einzugliedern“. In der Detailplanung bewege man sich vom Populationsareal zu Wildregionen und schließlich hinein in die Jagdgebiete. Dabei gebe es Kernzonen, Randzonen, Freizonen und Korridore. Je Zonentyp gebe es unterschiedliche Maßnahmen.

 

Das Resümee von Reimoser sieht folgendermaßen aus (Abschlussfolie, Hervorhebungen von Reimoser).

-       „35 Jahre WÖRP bisher unterschiedliche Ergebnisse

-       Durchhaltevermögen wichtig: positive Entwicklungen nicht auf halbem Weg unterbrechen

-       Möglichkeiten teilweise noch ungenutzt

-       Jagdgesetzliche Regelungen allein unzureichend für nachhaltige Problemlösung von Wald-Wild-Umwelt-Mensch

-       Komplexe Problemverknüpfungen erfordern auch in anderen Gesetzen abgestimmte Regelungen

-       Gemeinsame Ziele vor Einzelinteressen stellen. Umdenken aller Beteiligten in ökologischer Hinsicht.

-       WÖRP ist auch Instrument, um die am Wirkungssystem beteiligten Personen in einen Kommunikationsprozess zu zwingen. Emotionen und individuelle Maximal-Vorstellungen muss dabei jeder zügeln, um im Sinne eines optimalen Gesamtnutzens das Beste für das Gemeinwohl zu erreichen.

-       Integral statt sektoral“

 

Kommentar:

Wenn man das Resümee von Prof. Reimoser liest, spürt man durch, dass im konkreten Vollzug der WÖRP vieles offen, ungeklärt und unbefriedigend ist („auf halben Weg abbrechen“, „unzureichend“, „zwingen“, …). Die Situation im mehrmals angeführte Beispiel Rätikon (Vorarlberg, Liechtenstein) ist nach unserem Kenntnisstand in Bezug auf den Wildeinfluss (aus unserer Sicht mit hohen Wildschäden im Wald) nicht tragbar. Wir bezweifeln deshalb, dass WÖRP ein zielführendes Konzept ist.

 

 

Florian Rux (Hessen Forst)
„Bejagungsstrategien auf den Staatswaldflächen”

 

Rux stellte ausführlich das hessische Wald- und das Jagdgesetz und die seit 2018 gültige Richtlinie zur Bewirtschaftung des Schalenwildes (RiBeS) vor.

 

Stürme, Dürre und Hitze setzen dem Wald zu. Dazu kommen die Schalenwildbestände, die dieser Situation angepasst werden müssen. Es gehe um die Vermeidung von Schäden, möglichst ohne Schutzmaßnahmen: „Klimagerechte Wiederbewaldung ist nur mit vereinten Kräften und unter konsequenter Ausnutzung jagdrechtlicher Möglichkeiten leistbar.“  (Klimaeinflüsse à jagdliche Reaktion à Waldbau).

 

Von 2001 – 2022 wurde der Rotwildabschuss verdoppelt. Eckpunkte der Richtlinien von 2018 sind (aus der Vortragsfolie, Hervorhebungen vom Referenten):

-       „Verbindliche Mindestfreigaben unter Anwendung der Regelung der Schalenwildrichtlinie

-       Intervalljagd und räumliche Schwerpunktbejagung

-       Durchgängige und flächendeckende Kahlwildbejagung August/September

-       Verbot der Nacht- und Kirrjagd im Staatswald

-       Zielführende Beteiligung von Jagdgästen

-       Standards für Drückjagden

-       Lebensraumgestaltung (Waldwiesenkonzept Hessenforst)

 

Der Alttierabschuss solle 20% des Gesamtabschusses betragen, die Abschusshöhe frühzeitig unter Ausnutzung effizienter Phasen (April, Mai, August, September) erfolgen, so dass der winterliche Jagddruck sinke. Der räumliche und zeitliche jagdliche Idealzustand unterscheide jagdberuhigte Zonen, Intervallzonen und Schwerpunktzonen. Allerdings seien regionale Änderungen möglich. Die tatsächliche Rotwildstrecke zeige seit Einführung der Schalenwildrichtlinie 2018 Schwerpunkte April/Mai, August/September und im November.

 

Sein Fazit: Der Wald ist durch den Klimawandel bedroht, man müsse dem durch waldbauliche und jagdliche Anstrengungen entgegenwirken und gemeinsam „dem Ökosystem Wald helfen resilienter zu werden“. 

 

 

Diskussion

Im Gegensatz zu allen anderen Referaten entspannte sich hier eine rege Diskussion, die leider nicht im Ansatz ausdiskutiert werden konnte. Ein paar Punkte daraus:

-       Der stellvertretende unterfränkische BJV-Vorsitzende postulierte, dass der Staatswald nicht Eigentum der Förster, sondern Eigentum der Bürger sei.

Referent Rux und der Forstpräsident von Hessen, Michael Gerst, entgegneten, dass der Staatswald zwar nicht ihr Eigentum sei (hat auch niemand behauptet), die staatlichen Förster aber im Auftrag einer demokratisch gewählten Regierung handeln und deren Richtlinien umsetzen.

-       Präsident Weidenbusch verwies darauf, dass der Tierschutz, der ja seit 2002 im Grundgesetz verankert ist, zu wenig berücksichtigt werde.

-       Der sachlich, aber intensiv vorgetragene Redebeitrag von Stefan Auerbach, Leiter der Rotwildhegegemeinschaft Spessart, ließ erahnen, dass ausgehend von der Bewirtschaftungsrichtlinie des Staatswaldes von 2018 ein großer Konflikt zwischen Jagdverband und Forst existiert.

-       Da die Diskussion nicht weitergeführt wurde, konnte ich trotz Meldung meinen Beitrag nicht vorbringen: neben der von Gerst und Rux richtiggestellten Eigentumsfrage wunderte ich mich nämlich sehr, dass ein stellvertretender Bezirksvorsitzender, dessen Bezirk Unterfranken 70% rote Hegeringe aufweist, in Hessen so forsch kritisiert. Und Präsident Weidenbusch hätte ich gerne darauf hingewiesen, dass das von ihm ins Spiel gebrachte Grundgesetz im Artikel 20a schon lange vor der Aufnahme des Tierschutzes den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen beinhaltet.

 

 

Florian Vogel (Bayerische Staatsforsten AöR)
„Neues Rotwildmanagement am Forstbetrieb Rothenbuch”

 

Betriebsleiter Vogel stellte zunächst die Rahmendaten der Rotwild-Hegegemeinschaft Spessart-Süd vor (34.000 ha, davon 15.000 ha Staatswald). Seit 2015 besteht in der gesamten Hegegemeinschaft der körperliche Nachweis. Im Staatsjagdbereich gibt es ein allgemeines Nachtjagdverbot.

 

Dann stellte er statistisch unterlegt die gewaltige Zunahme der Schälschäden von 2011 – 2021 dar. „Die aktuellen Schäden sind auf einem deutlich zu hohen, keinesfalls akzeptablen Niveau, und müssen dringend reduziert werden.“ (Zitiert aus einer Folie)

 

Gleiches gelte für die Verbissschäden. Der Leittriebverbiss über alle Baumarten (Buche 21%) sei von 2011 zu 2021 von 6% auf 17% angestiegen. Die Anzahl erfasster Pflanzen sei signifikant auf 40% zurückgegangen. Vor allem der Rückgang der erfassten Pflanzen (besonders der Buchen) sei dem Schwarzwild geschuldet. Die Sauen seien in Mastjahren da, dann wieder weg.

 

Um diese desaströse Entwicklung zu stoppen habe man ein neues Jagdmanagementsystem etabliert. Dabei sollen die Bestandskontrolle des Schalenwildes, Festlegung von insg. ca. 4000 ha Rotwildkerngebieten, Lebensraumverbesserungen auf 100 ha, insgesamt 660 ha Tageseinstände für das Rotwild, Ruhezonen für das Rotwild, jagdliche Zonierungen, Nachtjagdzonen/Schwerpunktbejagung und Gemeinschaftsjagdbereiche eingerichtet oder neu geordnet werden.

-       Dazu wurden zwei Berufsjäger:innen (eine Frau und ein Mann) eingestellt, die jagen und koordinieren sollen.

-       Im Rotwildkerngebiet (ca. 4000 ha) jagen private Jäger:innen nur noch bei Sammelansitzen unter Leitung der Berufsjäger/Förster.

-       100 ha Lebensraumverbesserungen mit 30 ha Äsungsfläche und der Anlage von Prossholzflächen werden geschaffen. Dabei gehe es nicht um die Erhöhung der Lebensraumkapazität.

-       Der Abschuss der Zuwachsträger beim Rotwild soll auf 30% gesteigert werden.

 

Vogel schloss mit Kernaussagen ab (Folie „Kernaussagen“, Hervorhebungen vom Referenten):

-       Rotwild ist und bleibt die Leitwildart am Forstbetrieb Rothenbuch.

-       Die Waldschäden durch Schalenwild sind nicht tolerabel.

-       Die Rotwildpopulation ist nicht an die vorhandene Lebensraumkapazität angepasst.

-       Das Schwarzwild ist einer der Hauptschadensträger an der Buchenverjüngung.

-       Exponentielles Wachstum der Schwarzwildpopulationen muss gebremst werden (Tierseuchenprävention, Waldschäden).

-       Jagdmanagement Rotwild und Schwarzwild muss gemeinsam gedacht werden.

-       Das Schalenwild im Forstbetrieb Rothenbuch muss so bejagt werden, dass ein klimaangepasster Wald begründet werden und wachsen kann.

-       Reh- und v. a. Rotwild sollten den Lebensraum Spessart, entsprechend ihrer biologischen Bedürfnisse, erfolgreich besiedeln und gestalten ohne übermäßigen Schaden am Wald und seiner Verjüngung zu verursachen.

-       Das Schwarzwild soll so bejagt werden, dass exponentielles Wachstum der Population weitgehend verhindert wird und gleichzeitig die Ansprüche des Rotwildes an Ruhe und Äsungsangebot nicht gestört werden.

 

Gesunde und an den Lebensraum angepasste Schalenwildbestände zu bejagen ist oberstes Ziel des neuen Schalenwildmanagements.

 

èAlle zu treffenden Maßnahmen zahlen auf dieses Ziel ein.“

 

Kommentar:

Vogel machte zwar einerseits eindrücklich deutlich, dass es so nicht weitergehen könne. Aber im Grunde war seine Darstellung eine Bankrotterklärung, da er selbst als Hauptakteur der Staatswaldflächen verantwortlich war und ist.

 

Wenn man dazu weiß, dass im Staatsforst im Bayerischen Spessart einzelne Reviere seit Jahrzehnten die Wald-Wild-Problematik durch engagiertes Jagen ohne Berufsjäger, ohne Ruhezonen, ohne Äsungsverbesserungen etc. sehr gut bewältigen, fragt man sich, warum deren Konzept nicht übernommen wurde?

 

Ob in einer solchen Konstellation ein neues Jagdmanagement die Lösung sein kann, bleibt mehr als offen. Es entsteht der Eindruck, dass im Betrieb Rothenbuch jagdliche Grundhaltung und waldbauliche Zielsetzung gewaltig auseinanderklaffen. Vielleicht ist es ein Freud´scher Verschreiber: Aber wenn das oberste Ziel eines Schalenwildmanagements das Bejagen ist, braucht man sich über die waldbaulichen Zustände im Rothenbuch nicht zu wundern.

 

 

Dr. Michael Petrak (Forschungsstelle für Jagdkunde und Wildschadensverhütung)
„Aus der Biologie des Rotwildes für die Praxis, Empfehlungen (nicht nur) für Hegegemeinschaften“

 

Petrak hatte im Untertitel auf seinen Folien die Formulierung „Forschungen und Lösungen für Wildtiere, Lebensräume und Menschen.“ – Sehr umfassend und komplex. So war dann auch seine Darstellung, die angefangen bei den Störungen durch den Menschen über Grunddaten zu Strecken, Zählungen, Geschlechterverhältnis … die Lebensraumgestaltung, Jagd und Jagdkonzepte bis zur Lebensraumberuhigung reichte.

 

 

Dr. Wolfgang Kornder

 (Tagungsteilnehmer, 1. Vorsitzender des ÖJV Bayern)

 

Eingestellt 230720

© Dr. W. Kornder