Michael Winterhoff

„Warum unsere Kinder Tyrannen werden“

Oder: Die Abschaffung der Kindheit

 

Es gibt Bücher, die einem mit einem Schlag die Augen öffnen. Ein solches war für mich das oben genannte Buch des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff.

 

Ich arbeite als Realschullehrer, mit der Zeit der Praktikas inzwischen über 30 Jahre. Und dabei fiel mir auf, dass sich unsere Schüler- und Schülerinnen verändern.

 

Was veränderte sich?

- Nach der Pause sah es in der Aula zunehmend „unaufgeräumt“ aus. Allerlei Müll lag herum.

 

- Höflichkeitsformen traten immer mehr in den Hintergrund.

 

- Die Heftführung und das Anfertigen schriftlicher Arbeiten wurden oberflächlicher.

 

- Kinder waren immer weniger in der Lage sich in eine Gruppe, in eine Klasse zu integrieren. Immer mehr lebten ihren Individualismus aus, was das Leben in der Klasse immer schwieriger gestaltete.

 

- Die Konzentrationsfähigkeit und der Wille sich zu konzentrieren nahm ab.

 

- Eigenverantwortliche Vor- und Nachbereitung des Unterrichts wurde weniger.

 

- Kinder traten mir gegenüber wie Erwachsene, wie Menschen, die mit mir auf Augenhöhe stehen auf, und sich dabei immer mehr heraus nahmen.

 

- Eltern stärkten ihren Kinder zunehmend den Rücken gegen die Leher- und Lehrerinnen.

 

- Das Wissen um und das Pochen auf das dem Schüler/der Schülerin zustehende Recht wuchsen. Die Kehrseite, das Bewusstsein für die Pflicht in einer Gemeinschaft, in einem Sozialwesen stagnierten oder nahm ab.

 

- Immer mehr Kinder lebten nach dem „Lustprinzip“, „ich mach, was ich will“, und wurden dabei von ihren Eltern bestärkt.

 

- …

 

Kurz darauf mehrten sich Stimmen aus der Arbeitswelt, die feststellten: Es fehlt den Jugendlichen, die ihr uns ausbildet, zunehmend an Grundfertigkeiten in der Rechtschreibung oder Mathematik, an Arbeitsmotivation, an einem gesunden Sozialverhalten oder an der Fähigkeit, sich in eine Arbeitshierarchie einzuordnen. Der Anteil der Jugendlichen, die als nicht ausbildungsfähig gelten, wurde signifikant größer.

 

Das, was ich in Winterhoff´s erstem Buch las, brachte die ganzen Mosaiksteinchen, die ich wahrnahm und m.E. durchaus richtig interpretierte, in ein schlüssiges Gesamtkonzept. Und: Alle älteren Kollegen und Kolleginnen, die das Buch lasen, waren übereinstimmend der Meinung: Genau so ist es! So erleben wir das.

 

Grundannahmen, „wie aus Kindern Tyrannen werden“

Winterhoff beobachtet ähnliche Verhaltensänderungen bei Kindern und Jugendlichen in seiner Praxis als Kinder- und Jugendlichentherapeut und führt dies auf drei große Verhaltensweisen von Eltern, die zeitlich gestaffelt auftraten und –treten, zurück:

- Die Partnerschaftlichkeit

 

- Die Projektion

 

- Die Symbiose

 

Partnerschaftlichkeit

Winterhoff geht davon aus, dass Kinder keine Erwachsene, keine Partner sind. Wenn sie das nicht sind, können sie natürlich auch nicht entscheiden wie Erwachsene. Bei kleineren Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter ist das auch ohne weitere Erklärung nachvollziehbar. Völlig zurecht sind Kinder erst mit 14 überhaupt strafmündig.

Nach dieser Zeit, dann während der Pubertät, verändert sich dies zunehmend, wobei auch hier gilt: Pubertierende sind keine Erwachsenen. Deshalb werden sie auch nach dem Jugendstrafrecht, nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht behandelt.

In der Partnerschaftlichkeit versuchen Eltern ihre Kinder über Erklären und Begreifen, also sehr rational, zu erziehen. Es geht um Einsicht. Das Kind soll wie ein Erwachsener „verstehen“. Wer dies wie in der Partnerschaftlichkeit einseitig pflegt, blendet die die dringend notwendige Erfahrung und Einübung aus.

- Man kann eine Sportart theoretisch, rational beschreiben und irgendwie verstehen. Die Sportart erlernen, sie beherrschen, tut man nur mit der Übung.

 

- Einem Kindergartenkind mit 3-4 Jahren kann man die Gefahren des Straßenverkehrs erklären. Trotzdem ist es völlig verantwortungslos, es alleine in der Großstadt während des Berufsverkehrs loszuschicken.

 

Projektion

Erwachsene, Eltern, sind z.B. wegen der schnellen Entwicklung der Gesellschaft und der immer komplizierter werdenden Welt verunsichert. Die Kinder sollen es einmal besser haben und besser machen. So projizieren Eltern ihre nicht erfüllten Wünsche, das, an dem sie gescheitert sind, auf das Kind. Das, was man nicht erreicht und bewältigt hat, soll das Kind erreichen und bewältigen. Die Kinder werden zum Ort der „heilen Welt“.

   Schulpraktisch ist eine Folge davon das „Frontmachen“ gegen alles, was vermeintlich dem Wohlbefinden des Kindes widerstrebt. Daraus erklärt sich der Rollenwechsel mancher Eltern, von früheren Unterstützen der Lehrkraft zum Parteinehmen für die Kinder gegen die Lehrkraft.

 

Die Kinder werden nun mit einer Erwachsenenwelt belastet, der sie nicht gewachsen sind. Sie lernen, sich äußerlich wie Erwachsene zu verhalten, ohne dass sie die dafür nötige Reife haben. Und so treten sie dann Lehrern und Lehrerinnen und Arbeitgebern gegenüber. Der Crash ist vorprogrammiert.

- Statistisch gesehen verursachen junge Autofahrer signifikant mehr Verkehrsunfälle als andere Altersgruppen. Deshalb sind ihre Versicherungen ja auch so hoch. Selbstverständlich lernen sie beim Führerscheinmachen das Grundprinzip. Aber die Erfahrung fehlt. Die kommt erst mit den Jahren.

 

Symbiose

In der nächsten Stufe beobachtet Winterhoff die Symbiose. Eine Trennung zwischen Kind und Elternteil ist nicht mehr vorhanden ist.

- Ein Beispiel: So krabbelt das Kind, während die Mutter mit dem Arzt spricht, auf ihr herum, grapscht an ihr herum, dreht ihren Kopf mit seinen Händen zu sich hin und macht damit und verbal unmissverständlich deutlich, dass die Mama jetzt endlich das blöde Gespräch mit dem Arzt zu beenden und sich ihm zuzuwenden hat.

Die Eltern werden zum Objekt des Kindes, so wie dies seine Spielsachen oder Gegenstände in der Wohnung erlebt, mit denen es machen kann, was es will. Eltern werden zu „Stuhl“. Symbiotisch erzogene Kinder, die folglich nicht oder nur unzureichend mitbekommen, dass es neben Gegenständen auch andere Menschen mit Bedürfnissen und Gefühlen gibt, können keine Empathie entwickeln. Sie glauben, dass man mit Menschen wie mit einem „Stuhl“ umgehen kann, der sich vom Baby und Kleinkind beliebig herumschieben lässt. Und: Es kommt damit zur Machtumkehr: Die Kinder steuern die Erwachsenen.

 

Abschließende Gedanken

Kinder sind keine Erwachsene. Sie müssen langsam und behutsam in diese Erwachsenenwelt geführt werden und Schritt für Schritt die dazu notwenige Reife entwickeln. Damit ist die Position von Kindern und die Aufgabe der Eltern kurz und bündig beschrieben.

   Überfordert Kinder können sich in psychischen Teilbereichen nicht entwickeln. Sie bleiben sozusagen in einer bestimmten Entwicklungsphase hängen und werden damit älter, aber nicht reifer. Mit diesem Entwicklungsdefizit sind sie später nicht in der Lage, die für einen Erwachsenen vorausgesetzte Reife und damit die von ihm geforderte Leistung in der Gesellschaft zu erbringen.

   In einer gesunden Entwicklung müssen Grenzen gesetzt und wichtige Entscheidungen von den Eltern getroffen werden, muss geübt und in einem geschützten Rahmen ausprobiert werden – immer wieder. Dieser Rahmen erweitert und verschiebt sich mit steigendem Alter zunehmend.

 

Kinder handeln kindgemäß - das ist gut so - und wer Kinder als Partner ansieht, wer sie als Projektionsfläche benutzt, wer die Symbiose zulässt, überfordert diese und hindert ihre Entwicklung. So gesehen nimmt man ihnen ihre Kindheit und programmiert gravierende Konflikte in der Gesellschaft.

 

Literatur:

Michael Winterhoff

»Warum unsere Kinder Tyrannen werden«

Oder: Die Abschaffung der Kindheit

ISBN 978-3-579-06980-7

 

Michael Winterhoff hat weitere Bücher geschrieben, in denen er diese Thematik weiterführt und Lösungswege andenkt. Diese werde ich in der nächsten Zeit (sobald ich Luft dafür habe), hier vorstellen.

 

Aktualisiert 150201